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PK Was müssen Europa und Österreich aus der COVID-Krise lernen?

Aus den internationalen Parallelen im Umgang mit der Pandemie und bei den Herausforderungen für die Gesundheitssysteme muss europaweit gelernt werden, forderte die ÖÄK in einer Pressekonferenz.

Anfang Juli fand in Wien die 66. Konsultativtagung der deutschsprachigen Ärzteorganisationen statt. Im gemeinsamen Austausch hätten sich eine Vielzahl von Parallelen im Umgang mit der COVID-19-Pandemie herauskristallisiert, berichtete Thomas Szekeres, Präsident der Österreichischen Ärztekammer, bei einer Pressekonferenz. „Ein Beispiel davon war etwa der Bericht aus Deutschland. Auch in unserem Nachbarland konnte zum Glück vermieden werden, dass in den Intensivstationen eine Triage zur Anwendung kommen musste“, schildert Szekeres: „Doch da wie dort lag das neben dem unfassbaren Einsatz des medizinischen Personals auch daran, dass man die vor der Pandemie oft geäußerten Ratschläge aus Wirtschaft und Wissenschaft zu einem systematischen Bettenabbau ignoriert hat. Solche vorgeblichen Expertenmeinungen kennen wir in Österreich natürlich auch.“ Die Lehre daraus sei eindeutig, so der ÖÄK-Präsident: „Überall in Europa und auch in Österreich muss sich spätestens jetzt in den Köpfen der politischen Entscheidungsträger festsetzen, dass das Gesundheitssystem nicht wie ein Budgetposten wie jeder andere behandelt werden kann.“ In Deutschland und der Schweiz werde schon jetzt am BIP gemessen 1 bzw. 1,5 Prozent mehr für die Gesundheit ausgegeben, erinnert Szekeres Österreich gerate in absoluten Zahlen also Jahr für Jahr weiter in Rückstand. Die jährliche Wachstumsrate bei den Pro-Kopf-Ausgaben unterstreiche ebenfalls, dass die Schere weiter aufgehe: Während in Deutschland und der Schweiz die Ausgaben pro Kopf von 2013 bis 2019 um 2,7 bzw. 2,4 Prozent gestiegen sind, beträgt die Wachstumsrate in Österreich im gleichen Zeitraum nur 1,1 Prozent. „Es braucht also mehr Geld im System. Die Bindungen an das BIP müssen in Pandemiezeiten aufgehoben werden und wir müssen davon ausgehen, dass die Gesundheitsausgaben in Zukunft bei einer immer älter werdenden Gesellschaft und leistungsfähigeren medizinischen Möglichkeiten mehr und nicht weniger werden“, fordert Szekeres, der zudem die Nachhaltigkeit von Investitionen ins Gesundheitssystem betont. Jede investierte Summe werde sich durch vermiedene Folgekosten in kurzer Zeit amortisieren.

In Deutschland, aber auch in der Schweiz sei zudem ein Zuständigkeits-Wirrwarr zwischen Bund und Ländern bzw. Kantone bei der Pandemiebekämpfung aufgetreten. „Ähnliches mussten wir auch in Österreich feststellen, wenn wir an die Beschaffung von Schutzmaterial denken – dafür fühlte sich lange niemand zuständig und die Verantwortung wurde weitergeschoben. Schlussendlich mussten die Ärztekammern eingreifen, um die unhaltbaren Bedingungen, unter denen Ärztinnen und Ärzte trotz des hohen persönlichen Risikos arbeiten mussten, erträglicher zu gestalten“, betont Szekeres. Erst Monate später wurde die Zuständigkeit für die Beschaffung von Schutzmaterial offiziell bei Bund und Ländern verortet. „Hier muss künftig deutlich schneller eingegriffen und müssen die Zuständigkeiten klar geregelt werden“, appelliert Szekeres.

Auffällig war auch der Stellenwert von Impfungen im niedergelassenen Bereich in Deutschland. Das Nachbarland setzte erst spät auf Impfungen im niedergelassenen Bereich und erst als dieser Schritt gesetzt wurde, war der Start eines Impfturbos möglich. „Wir lernen daraus, dass es bei groß angelegten Impfvorhaben zwei Säulen braucht, um zügig voranzukommen“, stellte Szekeres fest: „Es ist kontraproduktiv, einen Sektor komplett zu ignorieren – wie es etwa in Wien passiert ist, wo die große Zahl impfwilliger niedergelassener Ärztinnen und Ärzte ignoriert und damit demotiviert wurde.“ In Verbindung mit dem zuvor genannten Punkt sei hier eine bundesweit einheitliche Impfstrategie entscheidend.

Viel brachliegendes Potenzial gebe es zudem im Umgang mit gesammelten Daten. ÖÄK-Präsident Szekeres hatte schon früh die Verknüpfung von Medikationsdatenbank und den Daten der Gesundheitsbehörden gefordert - selbstverständlich anonymisiert oder pseudonymisiert. „Damit können Zusammenhänge zwischen verabreichten Medikamenten und Krankheitsverläufen hergestellt werden. Im Idealfall finden wir auf diese Art Medikamente, die vor schweren Verläufen schützen. Hilfreich wäre auch die Verknüpfung der Impfdatenbank mit der Infektionsdatenbank. Sollten die Infektionszahlen unter den geimpften Menschen steigen, könnte das auf Mutationen hinweisen, die Impfdurchbrüche verursachen“, sagt Szekeres.

Langzeitfolgen beachten

Herwig Lindner, 1. Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer, wies auf einen weiteren zentralen Aspekt der Pandemie hin, nämlich Kollateralschäden durch verschobene Operationen und Vorsorgetermine, aber auch noch kaum abschätzbare psychische und soziale Folgen durch Lockdowns. „Durch die Impfung gibt es nun einen wirksamen Schutz gegen COVID – aber nur, wenn das Angebot, das nun langsam den Bedürfnissen der österreichischen Bevölkerung entspricht, auch wahrgenommen wird. Es ist eminent wichtig, dass sich ein möglichst hoher Anteil der Bevölkerung impfen lässt – und zwar bei vollständiger Erfüllung des Impfschemas“, appelliert Lindner. Das würde auch eine gründliche Aufarbeitung aller COVID-Folgen erleichtern. Beobachtet müsse zudem das Thema Long COVID werden. „Zu fordern ist hier die Förderung der wissenschaftlichen Untersuchung der chronischen Form der Erkrankung, die Etablierung von Anlaufstellen für Patienten und ein Ausbau des Versorgungsangebotes, sowohl im niedergelassenen Bereich als auch in Spezialambulanzen. Ebenso die Etablierung eines Universitätsnetzwerkes, das sich mit Erforschung der Ursachen und möglichen Therapien beschäftigt“, unterstreicht Lindner.

Zentral ist für Lindner zudem eine europäische Autarkie bei Schutzmaterial, wichtigen Medizinprodukten und Arzneimitteln. „Die Abhängigkeit von den Produktionsstätten und Lieferketten in Übersee ist uns allen in Europa schmerzlich bewusst geworden. Wir brauchen für den Bereich dieser grundlegenden Produkte eine Entkopplung vom Ökonomisierungsdruck – Europa muss sich seine Unabhängigkeit auch etwas kosten lassen“, so Lindner, der sich auch für europaweit einheitliche Standards im Gesundheitsbereich aussprach.

Essenziell sei jetzt eine schonungslose Analyse des bisherigen Pandemieverlaufes. Die Wahrscheinlichkeit für großflächige Ausbrüche von Infektionskrankheiten werde eher zunehmen.  „Europa darf kein zweites Mal derartig überrumpelt werden“, stellt Lindner klar. Alle Strukturen und Maßnahmen müssten nun auf Effizienz, Erfolge und Defizite hin überprüft werden. „Daraus müssen detaillierte Pläne für kommende Pandemien entstehen und zudem ein ausgefeilteres Instrumentarium, um effektiver auf das Pandemiegeschehen reagieren zu können – ich denke hier etwa auch an das Contact Tracing, bei dem Österreich leider streckenweise im Blindflug unterwegs war, aber auch an die angesprochene Datenverknüpfung“, sagte Lindner. Lockdowns hätten sich zwar als sinnvoll bei der Eindämmung des Infektionsgeschehens erwiesen, sollten aber nur ultima ratio sein.

Presseunterlage

PK Unterlage

Fotos

Fotocredit: ÖÄK/Bernhard Noll

O-Töne (MP3):

Dr. Thomas Szekeres:
Was sollte sich an den Ausgaben für das Gesundheitssystem ändern?
Welche Parallelen gibt es in den drei Ländern Deutschland, Österreich und der Schweiz bei den Problemen bezüglich der Pandemie?
Was war ein Problem bei der Bekämpfung der Pandemie?
Welches Potential haben Gesundheitsdaten? ​​​​​​​

Dr. Herwig Lindner:
Welche Verantwortung muss die EU in Zukunft stärker wahrnehmen, damit wir mit Pandemien besser umgehen können?
Woran mangelte es in der Pandemie?
Was sollte jetzt getan werden, damit Pandemien in Zukunft weniger Schaden verursachen?



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